Experimentelles Reisen – Koffein für die Fantasie
Für die, die nicht immer alles planen wollen. Für die, die vom Reisen zunehmend gelangweilt sind und nicht mehr so leicht begeisterungsfähig. Lass den Reiseführer zu Hause und das Smartphone aus! Hier kommen ausgefallene Reiseideen für euren nächsten Urlaub.
Kurz erklärt: Beim Experimentellen Reisen kommt es darauf an, das Reisen und Entdecken von festen Zielen zu entkoppeln. Du lässt dich quasi dahin führen wohin “der Wind dich treibt”. Oder zumindest fast.
Der gedankliche Vater der Idee, Joël Henry, beschreibt Experimentelles Reisen so:
«Experimental travel evades definition, but it can loosely be described as a playful way of travelling, where the journey’s methodology is clear but the destination may be unknown»
Reisen als Massentrend
Individualtourismus ist immer häufiger begrenzt. Die starke Kommerzialisierung von Reiseerlebnissen und Orten, die touristisch attraktiv sind sowie das „In-Sein“ des Reisens an sich machen ein wirklich individuelles Erlebnis zunehmend schwieriger. Auch die fortschreitende Digitalisierung verändert unser Reiseverhalten und unsere Wahrnehmung. Bevor wir überhaupt das erste Mal vor Ort sind, haben wir uns bereits auf Google Maps alles angesehen, eventuell Routen festgelegt .
Und als wäre das nicht genug, haben wir uns schon Bewertungen zu Hotels, Ausflügen und Events anderer Reisender durchgelesen. Das reduziert zwar die Chancen für böse Überraschungen, aber die für gute auch! Da ist es schwer, noch überrascht zu werden.
Der Weg ist das Ziel
Beim Experimentellen Reisen ist der Weg klar, das Ziel aber nicht. Du setzt dir Regeln, die zu dir passen und an die du dich halten mußt. So könnte dies das Erlaufen von Gebieten sein, die nach einem bestimmten System erschlossen werden (zum Beispiel erst links abbiegen, dann rechts, dann wieder links usw.) um sich einfach dem auszuliefern, wo man am Ende ankommt. Oder beim Besuch von Sehenswürdigkeiten die gegenüberliegende Straßenseite einmal genau zu erkunden und zu fotografieren, anstatt die Sehenswürdigkeit an sich.
Durch Zufall bin ich beim Surfen im Internet auf ein Buch aus dem Jahre 2005 gestoßen. Es kommt aus dem Hause Lonely Planet und heißt schlicht “Experimental Travel”. Experimental Travel? In Zeiten des standardisierten Reisens, in denen die Schnappschüsse und Reisebilder alle ähnlich aussehen und touristische Highlights und Länder wie Briefmarken gesammelt werden, verheißt das etwas Interessantes.
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„Laboratory of Experimental Travel“
Die Idee des experimentellen Tourismus wurde im Juni 1990 während einer Mittagspause in Strassburg geboren. Joël Henry und zwei Freunde fingen während des Essens an, über eine Reise zu sprechen, die später als Gründungsexperiment diente.
Die drei Freunde verbrachten später ein ganzes Wochenende in Zürich (Schweiz), bei dem alle zur selben Zeit, aber jeder für sich allein reiste. Damit war „Latourex“ erfunden, das „Laboratoire de Tourisme Expérimental“ (auf Deutsch: Labor für experimentellen Tourismus).
Der Straßburger Journalist Joël Henry hat dann auch 2005 das Buch geschrieben. Er spricht mir damit aus der Seele! Er ist Mitbegründer des „Laboratory of Experimental Travel“ und reist selbst am liebsten von A bis Z. Das bedeutet, dass auf einer virtuellen Landkarte bei alphabtisch geordneten Straßennamen eine gerade Linie zwischen der ersten Straße mit A bis zur letzten Strasse mit Z gezogen wird (sogenannter „Alphatourism“).
Dann wird diese gedachte Linie abgelaufen. Egal wohin das führt, Sackgassen umläuft man einfach. Dass man nicht weiß, wohin einen der Weg führen wird ist Teil der Idee. Wer Sicherheitsbedenken hat oder auf tatsächlich brenzliche Situationen stößt, sollte trotzdem abbrechen.
Joel Henry, der diese Art des Reisens auch mit Familie und Kindern durchführt, sagt :
„Für mich ist es wirklich charakteristisch für den Experimentellen Tourismus, dass man beides macht: Reisen und Spielen. Und man weiß eigentlich nie genau, ob man gerade auf Reisen ist oder ein Spiel spielt. Die Grenze dazwischen ist verschwindend klein.“ (Quelle: http://www.deutschlandfunkkultur.de).
Veränderte Perspektive
Mit Experimentellem Reisen kannst du Dinge entdecken, die fernab von Sehenswürdigkeiten liegen. Einfach mal die Perspektive ändern und Details beachten. Kleinigkeiten, Geräusche, Gerüche. Die Orte entdecken, wie ein Einheimischer. Obwohl wahrscheinlich noch nicht einmal diese so etwas tun.
Du wirst mir sicher zustimmen, dass dies seinen ganz eigenen Charme hat. Auf diese Art erlebst du Orte intensiver, als du es bei einer Jagd rund um die Sehenswürdigkeiten tun würdest. Das könnte ja auch schon bei der Auswahl der Flüge anfangen. Ich persönlich habe meine Flüge immer eher nach Preisen gebucht. Das heißt, ich bin dahin geflogen, wo die Flugpreise zu der möglichen Zeit am niedrigsten waren, egal was es war. Nur selten habe ich gezielt Destinationen ausgewählt.
Beim Experimentellen Reisen kann man so schon beim Buchen anfangen. So könnte man zum Beispiel eine festgelegte Nummer auswählen, die die ganzen Reise definiert. Zum Beispiel die Zahl 5. Man bucht den 5ten Flug von oben, nimmt dann im Zielort ein öffentliches Verkehrsmittel mit der Nummer 5, fährt 5 Stationen und so weiter.
Sehr schön finde ich auch eine Idee für Paare: Die Partner erreichen den Zielort jeweils individuell und dann versucht man, sich (ohne Google Maps bitte) zusammenzufinden.
Und trotzdem:
Lustigerweise bezeichnet Experimentelles Reisen etwas, was eigentlich von allein passieren sollte. Jedoch in unserer schnelllebigen Zeit, in der jeder gehetzt ist, muß es dafür einen Namen geben, ein Buch und ein Schema, um es wiederzuentdecken. Warum auch nicht.
Diese Methoden eignen sich übrigens auch sehr gut für die Entdeckung der eigenen Heimatstadt. Es finden sich ganz bestimmt noch Winkel, die ihr noch nicht kennt oder die sich mit der Zeit stark verändert haben. Ich werde das jedenfalls nutzen und Berlin wiederentdecken. Mal sehen, was sich ergibt. Ich halte euch auf dem Laufenden!
Kleine Projekte haben sich rund um die Idee gebildet. So zum Beispiel das „Insitut für ländliche Schönheit“.
Eure